Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik
Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?
Aktionismus als Reaktion auf die postsowjetischen Verhältnisse
Die Kreativen, d. h. die in der zeitgenössischen Szene tätigen Künstler, Musiker, Theoretiker, verstehen sich zunehmend als revolutionäre Klasse, die genug Macht entwickeln kann, um Kultur und Gesellschaft zu transformieren. Mehr denn je zeigt sich das in der Gegenwartskunst in Russland. Seit den politischen Umbrüchen der 1990er Jahre führen insbesondere die radikalen Künstler und neu entstehende Gruppierungen den Widerstand fort, der mit der nonkonformen Kunst schon lange im Untergrund schwelte, lediglich unter neuen Vorzeichen. Die gegen Politik und daran anknüpfende Transformationen in Wirtschaft und Gesellschaft gerichteten Reaktionen sind auffällig, machen sich im öffentlichen Raum, häufig lautstark, geltend. Eine solche „Kunst der Präsenz“ (Osmolovskij 2005: 693) (* 7 ), bei der die eigene Anwesenheit als künstlerisches Ereignis erlebt wird, verweist auf die situationistischen Utopien einer totalen Konstruktion des menschlichen Lebens und damit die radikalste Form der radikalen Kunst.
Es sind in erster Linie verschiedene Gruppierungen in Moskau – als Moskauer Radikale wahrgenommen –, die mit ihren Aktionen eine bis dahin ungekannte Determinante in die Kunst einführen. Einen Überblick über die vielseitigen Vorgehensweisen gibt Andreij Kovaljev in seiner 2007 erschienen Anthologie Rossijskij Akcionizm 1990–2000.*3 *( 3 )
Als einer der führenden Vertreter der radikalen Kunst begründete Anatolij Osmolovskij (Osmolovskij 2005: 675 ff.) (* 7 ) die Gruppe Radek und ein gleichnamiges Magazin, mit dem er der gesamten Bewegung ihr theoretisches Fundament gibt. Die Radikalen stehen im ständigen Widerspruch zur öffentlichen Meinung, vertreten aber, trotz vergleichbarer Vorgehensweisen, einen ausgeprägten Individualismus. „Jeder versucht auf seine Art, seine exklusive, souveräne Position zu finden und einzunehmen.“ (Osmolovskij 2005: 688)
(* 7 ) Aus noch freien gesellschaftlichen Positionen heraus arbeiten sie mit der Figur des Antihelden.
Von Anbeginn an tritt die Gruppe Radek mit ausgewiesen politischen urbanen Interventionen auf. Bezeichnend sind Aktionen, wie die 1999 anlässlich der Wahlkampagne durchgeführte, bei der die Gruppe das Lenin-Mausoleum besetzte und ein Banner entrollte, auf dem – quasi als Aufforderung an die Wähler – „Protiv vsech“ (Gegen alle) zu lesen war.
Zentrales Moment bei dieser Aktion war, jene Mechanismen zu kennen und zu nutzen, die eine politischen Geste legitimieren, die aber in der Ausführung durch die Radikalen zur Provokation werden. Da sich die Künstler ihrer Grenzen hinsichtlich politischer und gesellschaftlicher Einflussnahme durchaus bewusst waren, strebten sie gar nicht erst an, mit legitimen politischen Methoden auf das Gemeinwesen einzuwirken. Im Gegenteil ist ihre Kampagne Protiv vsech als Versuch zu werten, jede politische Partei aus dem Bereich der Legitimität herauszudrängen, um unter anderem deutlich zu machen, dass demokratische Wahlen ebenso wie die freie Marktwirtschaft und andere Übernahmen kapitalistischer Praktiken in Russland doch wieder nur zu Machtinstrumenten würden, die den Alltag des Menschen bestimmen.
Konsequenterweise soll daher die künstlerische Aktion, um Kontakt mit dem Publikum herzustellen, in bisweilen geradezu mimetischer Nachahmung offizieller Praktiken neben die führenden Parteien und Nutzung der politischen Sphäre gestellt werden. Um die unter dem Konzeptualismus stehende Kritik zu umgehen, wenden sich die Radikalen direkt an den Konsumenten, an den – ihrem Verständnis nach – anspruchslosen Rezipienten der Massenmedien. Mit der Straße und den Medien agieren die Künstler auf den gleichen Plattformen der Öffentlichkeit wie die Politik. Doch da entgegen der Machtmittel, die den Politikern und Industriellen in Russland zur Verfügung stehen, den Künstlern als Waffe nur die Aktion und nonkonformes Verhalten bleiben, sind ihre Handlungen entsprechend ausgerichtet. Ziel ist es, die destruktiven Prozesse im Land angemessen zu repräsentieren. Doch die Willkürlichkeit, mit der in der Zeitung Sjevodnja unter der Redaktion von Andrej Kovaljev eine Kunstspaltung eingerichtet wird, um dann drei Jahre später wieder aus nicht ersichtlichen Gründen eingestellt zu werden, zeigt, wie nicht nur die Kunst sich die politische Plattform zunutze macht, sondern wie auch umgekehrt die Kunst von der Politik abhängt.
Die radikale Kunst entstand in einer Gesellschaft, in der sich die politischen Strukturen erst allmählich zu konsolidieren suchten, gleichzeitig aber bereits von den neuen Gesetzlichkeiten vereinnahmt wurden, so dass eine Trennung von Wirtschaft und Politik unmöglich wurde. Sie ist, trotz ihres linksradikalen Pathos, auch Ausdruck reaktionärer kapitalistischer Ambitionen der neuen russischen Unternehmerklasse, d. h. sie findet in jenen Bereichen Anklang und Förderung, die von den neuen marktwirtschaftlichen Strukturen profitieren, gegen die sich die Künstler auflehnen. Unweigerlich ist sie somit einem kaum zu lösenden Widerspruch ausgesetzt. Kulik suchte sich zwar als Staatskünstler zu etablieren, doch war er nicht vom Staat, sondern von der neuen russischen Gesellschaftselite gefragt.
Viola Hildebrand-Schat ( 2013): Aktionismus in der russischen Gegenwartskunst zwischen Kultur und Politik. Die Moskauer Radikalen und das Künstlerkollektiv Chto delat?. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 02 , https://www.p-art-icipate.net/aktionismus-in-der-russischen-gegenwartskunst-zwischen-kultur-und-politik/