Fluchthilfe oder Schlepperei?
Ein anderes Begriffspaar, das die gegenwärtigen Debatten über Flucht/Migration wesentlich prägt, ist das der ,Fluchthilfe‘ und ,Schlepperei‘. Gewissenlose Schlepper, die Profit aus der Not flüchtender Menschen schlagen – dieses Bild bestimmt für viele das Verständnis aktueller Flucht- und Migrationsbewegungen: „Flüchtlinge in Seenot im Mittelmeer, zusammengepferchte Menschen in Frachtcontainern, überfüllte Flüchtlingsboote auf dem Weg nach Australien und hilflose Kinder, die massenweise von Lateinamerika in die USA geschleust werden, dominieren seit Langem die Berichterstattung zu diesen Themen.“ (Schloenhardt 2015) (*16)
Schlepperei gilt gemeinhin als organisiertes Verbrechen, als kriminelle Industrie, die mit Waffenschmuggel, Terrorismus und Drogenhandel auf einer Stufe zu stehen scheint. Tatsache ist allerdings, dass für viele Flüchtende Schlepper die einzige Möglichkeit darstellen, nach Europa bzw. in sichere Zielländer zu gelangen. (Literaturtipp zum Thema: Anderl/Usaty 2016) (*17) „Das wachsende Wohlstandsgefälle in der Welt und die vielen gewalttätigen Konflikte in den Hauptherkunftsländern der Flüchtlinge erklären, warum zu Beginn des 21. Jahrhunderts so viele Menschen ihre Hoffnungen auf Schlepper setzen“, so der Rechtswissenschaftler Andreas Schloenhardt. (2015) (*16) „Schlepper werden dort in Anspruch genommen, wo eine legale Flucht nicht möglich ist oder wo Transitrouten in Zielländer verbaut sind“, bemerkt auch Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch, in einem Kommentar auf DerStandard.at. „Je dichter die Tore der Festung Europa geschlossen werden, desto dringender brauchen Flüchtlinge den Dienst von Schleppern.“ (Pollak 2012) (*18) Schlepperei bzw. Fluchthilfe ist also Resultat einer restriktiven Aufnahmepolitik der Zielländer, nicht deren Ursache.
Bis zum Fall des Eisernen Vorhangs war in Westeuropa im Allgemeinen von ,Fluchthilfe‘ die Rede, und während des Kalten Krieges galt diese für Menschen aus dem Osten in den Westen noch als ,ehrenhaft‘. Dass ,Fluchthilfe‘ zur ‚Schlepperei‘ umgedeutet und zur Straftat wurde, ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte, als Europas Behörden ihre Grenzpolitik zunehmend aufeinander abstimmten. Aus Fluchthelfer_innen wurden ,Schlepper‘ und ,Schleuser‘, nachdem in den 1990er-Jahren die Schlepperei durch völkerrechtliche Verträge umfassend kriminalisiert worden war.*4 *(4) Im internationalen Recht wird Schlepperei definiert als „die Herbeiführung der illegalen Einreise einer Person in einen Staat, dessen Staatsangehörige sie nicht ist oder in dem sie keinen ständigen Aufenthalt hat, mit dem Ziel, sich unmittelbar oder mittelbar einen finanziellen oder sonstigen materiellen Vorteil zu verschaffen“. (UN 2008) (*19) Davor galten etwa in Deutschland noch richterliche Urteile, die Fluchthilfe als Dienstleistung begriffen, für die man sehr wohl entlohnt werden durfte: So urteilte etwa der deutsche Bundesgerichtshof 1977, dass Fluchthelfer einen einklagbaren Vergütungsanspruch haben.
Verschieben von Diskursen
Das Beispiel des ,langen Sommers der Migration‘ zeigt, wie es – zumindest für eine kurze Zeit – gelang, eine Verschiebung im jüngsten öffentlichen Diskurs herbeizuführen, indem der Begriff der ,Schlepperei‘ durch den der ,Fluchthilfe‘ ersetzt bzw. verdrängt wurde. Nachdem im August 2015 Medien von der ,Flüchtlingstragödie bei Parndorf‘ berichtet hatten – 71 Menschen, die in einem Kühllastwagen von Ungarn nach Österreich einreisen wollten, kamen dabei qualvoll ums Leben und wurden Tage später auf der Autobahn in der burgenländischen Gemeinde Parndorf gefunden –, reagierte die Politik mit einem „Fünf-Punkte-Plan“ gegen Schlepper, die u. a. verstärkte Grenzkontrollen zu Ungarn und Strafverschärfungen gegen Schlepper vorsah. Schlepper, so schien es, waren das größte Problem in der ,Flüchtlingsdebatte‘. Im September 2015 rief die Initiative ‚Konvoi Budapest Wien – Schienenersatzverkehr für Flüchtlinge‘ über soziale Medien dazu auf, Geflüchtete in Privatautos und -bussen von Ungarn nach Österreich und Deutschland zu bringen. Für einen Moment wurde die Diskussion, was ,legal‘ oder ,illegal‘ ist, wer ein_e ,Schlepper_in‘ ist oder nicht, verdrängt von der Frage: Was ist notwendig und legitim?
Wie sich der Blick auf das, was ,zulässig‘ ist, ändern kann, lässt sich auch an einem Beispiel der Associated Press (AP), der größten internationalen Nachrichtenagentur, ablesen. 2013 kündigte die AP an, künftig den Terminus ,illegal immigrant‘ (,illegale_r Migrant_in‘) nicht mehr zu verwenden und stattdessen konkrete Handlungen (wie etwa den Grenzübertritt ohne Papiere), jedoch keine Personen mehr als ,illegal‘ zu beschreiben. Hintergrund dieser Entscheidung war die in den USA schwelende Debatte über den Begriff und das Verständnis von ,Illegalität‘, die von José Antonio Vargas ins Rollen gebracht wurde. Der von den Philippinen stammende Journalist und Filmemacher war 1993 als Jugendlicher zu seinen Großeltern in die USA gereist und lebte fortan ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung in den Staaten. Vargas gehört zu den ,Dreamers‘, wie die als Kinder ohne Papiere in die USA gekommenen Zuwander_innen genannt werden. Die Bezeichnung leitet sich von einer Gesetzesinitiative zum Schutz von minderjährigen Migrant_innen ab*5 *(5), unter dem entsprechenden Dekret des ehemaligen Präsidenten Barack Obama wurden fast 800.000 ,Dreamers‘ geduldet und durften im Land bleiben. Donald Trump erklärte 2017 das Schutzprogramm jedoch für beendet. In einem Tweet erklärte der amtierende US-Präsident, „große Fluten von Menschen“ (Trump 2018) (*20) – gemeint sind vor allem Zuwander_innen aus Mexiko – versuchten, das Programm auszunutzen.
Vina Yun ( 2018): Die ,Flut‘ in unseren Köpfen. Wie Medien über Flucht und Geflüchtete sprechen. In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 09 , https://www.p-art-icipate.net/die-flut-in-unseren-koepfen/